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„Übereifrige“ Immunzellen scheinen dem Gehirn gut zu tun

14. Februar 2022

Befunde von Forschenden aus München stützen die These, dass hyperaktive Immunzellen des Gehirns im Zuge neurodegenerativer Erkrankungen schützend wirken können. Ein Team aus Fachleuten des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und des LMU Klinikum München berichtet darüber im Wissenschaftsmagazin „The EMBO Journal“. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen derzeit davon aus, dass eine gezielte Beeinflussung der Aktivität der Immunzellen im Gehirn über einen Rezeptor namens TREM2 einen erheblichen Einfluss auf neurodegenerative Krankheitsprozesse haben könnte. In der Aktivierung von TREM2 sehen sie daher einen vielversprechenden Ansatzpunkt für die Medikamentenforschung.

stammzellen Angefärbte Mikrogliazellen, die für dei Studie aus Stammzellen (iPSCs) hergestellt wurden, um typische Proteine in den Zellen zu zeigen (blau: Zellkern, grün: Progranulin, rot: Iba1). (Bild: LMU Klinikum)

Die Immunzellen des Gehirns – auch „Mikroglia“ genannt – gehen gegen Krankheitserreger vor, helfen bei der Beseitigung zellulärer Rückstände und die Gesundheit des Gehirns zu bewahren. Doch bei Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen geraten diese Zellen in einen „hyperaktiven“ Zustand: Dieser wird herkömmlich als überschießende Immunreaktion eingeschätzt, weil damit chronische, schädliche Entzündungsprozesse einhergehen. Doch die aktuellen Ergebnisse lassen diese Sichtweise teilweise in neuem Licht erscheinen. „Anders als gemeinhin angenommen, stützen unsere Befunde die These, dass hyperaktive Mikroglia nicht nur schädlich sind, sondern auch ihr Gutes haben. In jüngster Zeit gab es dafür schon einige Hinweise. Unsere Studie liefert nun weitere Belege“, so Christian Haass, Forschungsgruppenleiter am DZNE und Professor für Biochemie an der LMU München.

Antikörper im Einsatz

In vorherigen Studien hatte Haass gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen ein Protein mit der Bezeichnung TREM2, das in der Zellmembran von Mikroglia verankert ist, als „Aktivitätsschalter“ identifiziert. Mit Hilfe von Antikörpern, die an TREM2 binden – gemeinsam entwickelt mit dem US-Unternehmen Denali Therapeutics – gelang es den Forschenden, diesen molekularen Schalter quasi umzulegen und damit die Aktivität der Mikroglia anzukurbeln. „Seinerzeit haben wir in Laborversuchen gesehen, dass die so aktivierten Mikroglia die für Alzheimer typischen Proteinablagerungen, die Amyloid-Plaques, effektiver beseitigen“, erläutert Haass. „Allerdings hatten wir die Befürchtung, dass eine zu starke Aktivierung der Mikroglia, wie allgemein angenommen, Schaden anrichten könnte.“

Die aktuellen Studien erweitern die damaligen Untersuchungen. Statt die Aktivität von Mikroglia zu steigern, verfolgten die Forschenden nun die gegenteilige Absicht. „Wir wollten wissen, wie es die Pathologie beeinflusst, wenn wir die Aktivität hyperaktiver Mikroglia drosseln“, so Haass. Zum Einsatz kam diesmal ein Antikörper, der den TREM2-Rezeptor quasi außer Kraft setzte und somit die Aktivität der Immunzellen im Gehirn verringerte.

Laborstudien

Exemplarisch für neurodegenerative Erkrankungen nahmen die Forschenden die „GRN-assoziierte frontotemporale lobäre Degeneration“ – kurz: GRN-FTLD – in den Fokus. „Das ist eine genetisch bedingte, seltene Form der Demenz, die mit einem breiten Spektrum auffälliger Verhaltensweisen einhergeht. Manche Betroffene sind impulsiv und aggressiv, andere wiederum apathisch“, erläutert Prof. Dominik Paquet, Neurobiologe am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung des LMU Klinikums München, dessen Arbeitsgruppe an der aktuellen Studie ebenfalls beteiligt war.

„Die GRN-FTLD ist gut beschrieben, und es gibt gute Möglichkeiten für Laborstudien. Deshalb haben wir sie als Beispiel genommen, um zu untersuchen, wie hyperaktive Mikroglia zur Pathologie von Neurodegeneration beitragen“, so Dr. Anja Capell, Biochemikerin an der LMU München, die die aktuelle Studie mitkonzipierte.

Das Forschungsteam nutzte für seine Experimente verschiedene Zellkulturen. Diese beinhalteten entweder Mikroglia, die aus menschlichen Stammzellen gewonnen wurden, oder Zellen, die direkt von Patienten mit GRN-FTLD stammten. Untersucht wurden außerdem Mäuse mit für GRN-FTLD typischen Erbanlagen.

Weniger Aktivität der Mikroglia führte zu keiner Verbesserung

„Unsere Daten deuten darauf hin, dass es tatsächlich möglich ist, die Aktivität der Mikroglia zu verringern, indem man die TREM2-abhängigen Signalwege blockiert. Hyperaktivität ist also reversibel und keine Einbahnstraße, was nicht selbstverständlich ist“, so Anja Capell. „Die pathologische Situation wurde dadurch aber nicht verbessert, sondern hat sich sogar verschlechtert. Der Verlust von Kontakten zwischen Nervenzellen, den Synapsen, nahm zu. Außerdem haben wir festgestellt, dass ein Biomarker für neuronale Schäden anstieg.“

Diese Ergebnisse sind unerwartet. „Uns hat das selbst überrascht. Doch entgegen der weit verbreiteten Meinung scheinen hyperaktivierte Mikroglia gewisse Schutzfunktionen zu behalten. Zumindest gilt das für das Modellsystem, das wir untersucht haben“, sagt Christian Haass. „Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine kontrollierte Steigerung der Aktivität der Mikroglia helfen könnte, den Krankheitsprozess ein Stück weit einzudämmen. Ich halte es daher für vielversprechend, beim TREM2-Rezeptor mit einem aktivierenden Antikörper anzusetzen. Diesen Gedanken wollen wir weiter verfolgen.“

Titel der Originalarbeit

Anika Reifschneider, Sophie Robinson, Bettina van Lengerich, Johannes Gnörich, Todd Logan, Steffanie Heindl, Miriam A Vogt, Endy Weidinger, Lina Riedl, ..., Anja Capell, Christian Haass
Loss of TREM2 reduces hyperactivation of progranulin deficient microglia but not lysosomal pathology
The EMBO Journal 2022; 41: e109108. doi: 10.15252/embj.2021109108

Förderung

Diese Studie wurde unter anderem von der Hans und Ilse Breuer Stiftung unterstützt.

Ansprechpartner

Prof. Dr. Dominik Paquet
Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD)
LMU Klinikum München
dominik.paquet@med.uni-muenchen.de

Quelle: LMU Klinikum